Ein Sonntag in Agadir

Agadir ist vor allem touristisch bekannt als Reiseziel für Sonnenhungrige und Ausgangsbasis für Rundreisen durch den Süden Marrokos. Selbst wohlmeinende Reiseführer verweisen nach dem 10 km langen Sandstrand und den 340 Sonnentagen pro Jahr immer auf das Erdbeben, das in der Nacht vom 29. Februar 1960 die kleine Hafenstadt fast vollständig zerstörte. Bis auf die Mauern der Kasbah, der befestigten Burganlage auf dem Hügel über der Stadt, die man wiederaufgebaut hat, ist hier nichts Altes mehr zu finden, alles wurde in den 1960er Jahren neu aufgebaut.

Als »moderne« Stadt hat es Agadir auf dem Jahrmarkt touristischer Eitelkeiten schwer, neben den Königsstädten Fes, Meknes und Marrakesch oder den malerischen Bergdörfern zu bestehen. Die Touristen wollen sich hier von der Kultur erholen oder haben mit ihr gar nichts im Sinn. Sie bleiben am Strand, gehen ins Casino oder buchen einen der zahlreich angebotenen Ausflüge ins Landesinnere. Auch in den Annalen der heroischen Architekturgeschichte ist Agadir im Unterschied zu Brasilia und Chandigarh nicht verzeichnet, höchstens als unbedeutende Fußnote.

Doch wenn man sich auf die Stadt einläßt, in ihr spazierengeht, sie in allen Ecken und Enden erkundet, spürt man ihren etwas ruppigen Charme. Die breiten mit Palmen begrünten Avenuen, die üppigen Grünanlagen und großen Plätze, die Medina mit den ein- und zweistöckigen Hofhäusern an schmalen Gassen und schattenspendenden Arkaden sind voller Leben. Immer wieder gerät man ins Zentrum der Stadt, das sich um zwei Plätze mit Rampen, Treppen, Kanälen und Bassins entwickelt. An dem einen liegt das Rathaus und die Post, am anderen das Immeuble A, das mit seinen 150 m Länge und seinen fünf Geschossen das Herz der Stadt dominiert.
 
Besonders auffallend ist die überall herrschende gestalterische Einheitlichkeit, die Agadir dem planvollen Wiederaufbau in wenigen Jahren verdankt. Der Einsatz von Farbe, Material, Konstruktion und Stil wurde, auch wenn die einzelnen Baublöcke an verschiedene Architektenteams vergeben wurden, zentral koordiniert. Gefordert waren: Sichtbeton, weiße Putzflächen, naturfarbenes Holz und dunkel gestrichene Metallelemente. Farben waren nur an untergeordneten Stellen, an den Untersichten der Loggien etwa, erlaubt.

 


Die Stadt wurde für 30 000 Einwohner geplant, doch heute ist Agadir eine Großstadt mit etwa 700 000 Einwohnern, ein wichtiger Handels- und Fischereihafen und mit seinen Konserven- und Tiefkühlfabriken ein bedeutender Wirtschaftsfaktor des Landes. Die Stadt platzt aus den Nähten und die Einheitlichkeit ihres Erscheinungsbilds droht verloren zu gehen. 2009 stand das schönste Gebäude der Stadt, das Postgebäude von Jean-François Zevaco, vor dem Umbau. Nur durch die Mobilisierung der Medien konnte die marrokanische Architektenschaft das Schlimmste gerade noch verhindern. Heute erstrahlt der Bau mit nur kleinen Veränderungen in neuem Glanz und nimmt mit seiner spielerischen Expressivität und sensiblen Maßstäblichkeit sehr für sich ein.

Doch das Beipiel zeigt, dass es in Agadir einen wachsenden Veränderungsdruck gibt. Man kann nur hoffen, dass sich die Verantwortlichen bewusst sind, dass auch eine funktionalistische Planstadt der 1960er Jahre und ihre anspruchsvolle Bauten ein einzigartiges bauliches Erbe sind. Zeugen sie doch von einem optimistischen Gestaltungswillen und einem Pioniergeist, der aus Ruinen neues Leben wachsen ließ.